Vom Tod
Mir geht gerade durch den Kopf, wie besorgt, ja ängstlich viele meiner Verwandten und Freunde waren, als ich ihnen davon erzählte, dass ich über den Atlantik segeln will. „Hast Du keine Angst?“, war die erste Reaktion. „Da gibt es doch Stürme, hohe Wellen und andere Unwägbarkeiten!“ Ja, die gibt es, aber ich hätte mir etwas mehr davon gewünscht. Unterschätzt habe ich eher die menschlichen Unwägbarkeiten, die fast zwangsläufig auftreten, wenn sich die Crew noch nie zuvor gesehen hat. In dieser Hinsicht habe ich mich überschätzt: Meine Toleranz gegenüber anderen, mein Verständnis für andere Werte und andere Denkweisen, kurz: meine sozialen Fähigkeiten.
Angst vor dem Segeltörn hatte ich zu keinem Zeitpunkt. Angst ist eine Frage der Sichtweise, vorausgesetzt, man ist sich des Risikos bewusst. Ich war gut vorbereitet, hatte schon viel gelesen und meine eigenen Erfahrungen und Kenntnisse aus der Hochseeschiffer-Ausbildung gaben mir ein sicheres Gefühl. Das „Restrisiko“ ging ich gerne und bewusst ein. Wenn ich vor allen Eventualitäten zurückschrecke, brauche ich morgens nicht mehr aufzustehen. Dann lebe ich eigentlich gar nicht mehr, auch, wenn mein Herz noch schlägt.
Und überhaupt: Selbst wenn ich nicht mehr zurückkäme, hätte ich mein Leben voll und ganz ausgeschöpft, selbst, wenn es dasselbe gekostet hätte. Der Tod ist für mich nichts Schlimmes. Wir machen nur eine Katastrophe daraus, wenn Tod und Ungemach uns beweisen, dass das Leben nicht in unserer Hand liegt.
Das klingt sicher für viele Angehörige wie Hohn. Schließlich plagen sie Trauer und Abschied. Für viele bedeutet der Tod eines Angehörigen einen Verlust, der ihnen eine völlige Neuorientierung abnötigt. Zu dem Seelenschmerz kommen also ganz irdische Probleme. Aber all dies lässt den Toten ziemlich kalt – im wahrsten Sinne des Wortes.
Wie wir mit dem Tod umgehen, hängt maßgeblich von unserer Lebenseinstellung und vom Blickwinkel ab. Deshalb will ich mich dem Thema sachlich und emotionsfrei nähern:
Biologisch betrachtet, ist alles Leben vergänglich. Es wäre unser Untergang, wenn es kein Sterben gäbe. Man stelle sich das vor: Im Wald kommen keine jungen Bäume hoch, solange die alten das Kronendach schließen. Tiere und Menschen vermehren sich endlos und treten sich zwangsläufig tot – ach, das geht ja nicht. Tod gehört also zum Leben und das ist gut so.
Außerdem verhilft uns die Endlichkeit unseres Lebens zu einem bewussteren Solchen, freilich vorausgesetzt, wir befassen uns mit dem Tod. Aber dieses Thema ist in weiten Kreisen noch immer ein Tabu. Mit dem Tod setzt man sich nicht gerne auseinander.
Wenn der Tod zum natürlichen Lebensprozess gehört, was ist dann so schlimm daran? Es ist die Bedeutung, die wir dem Tod beimessen. Wenn junge Menschen, wenn Kinder sterben, quält uns das „Warum“. Es gibt keine Antwort darauf! Wir haben in solchen Fällen nur zwei Möglichkeiten: Mit dem Schicksal zu hadern und womöglich daran zu verzweifeln oder es als gegeben anzunehmen und für das „Geschenk auf Zeit“ dankbar zu sein.
Viele Religionen sehen den Tod als Erlösung und je salbungsvoller diese Erlösung beschrieben wird, umso befremdender wirkt solches Denken auf mich. Abgesehen von einem Leben in Leid und Schmerz kann ich keine Erlösung im Tod erkennen. Jedenfalls nicht, wenn ich dankbar und in Liebe durchs Leben gehe. Also Erlösung wovon? Eine Erlösung könnte es sein, wenn ich mein Leben als Kampf sehe, zum Beispiel gegen Armut, Krankheit, Versuchung, Emotionen oder was auch immer. Aber das ist nicht gemeint.
Christentum und Judentum sehen in der Erlösung die Befreiung von Sünde und damit das Heil. Ich kann jedoch der ganzen Erlösungstheorie nicht folgen. Ob wir das Heil, die Erlösung oder – im Buddhismus – die Erleuchtung finden, hängt doch letztlich von unserem ganz persönlichen Lebenswandel und von unserer Lebenseinstellung ab. Ob wir aus eigener Kraft dahinkommen oder ob es dazu „göttlicher Gnade“ bedarf, vielleicht auch beides zusammenspielen muss, will ich an der Stelle offenlassen.
Das Christentum sieht im Tod nicht das Ende des Lebens, sondern einen anderen Seinszustand. Diese Sichtweise müsste doch den Hinterbliebenen Trost genug sein. Meine Beobachtungen sind aber andere: Ein regelrechter Trauerkult hindert uns am Loslassen. Müssen wir dieses Loslassen nicht lernen, kann man es lernen?
Loslassen kann ich nur im Vertrauen. Im Vertrauen darauf, dass alles, was geschieht, in Ordnung ist, dass es sein darf. Man kann es auch Gottvertrauen nennen. Das macht manche Fügung erträglicher. Das setzt freilich die Anerkennung der Existenz eines Gottes oder einer höheren Macht voraus. Dazu braucht es keinen kirchlichen oder religiösen Hintergrund. Es braucht die unerschütterliche Gewissheit über eine wundersame Schöpfung, deren Wege, Umwege und Fügungen wir nicht immer verstehen und lieben müssen.
Skeptikern ist diese Gewissheit fremd, weil sie nicht wissenschaftlich nachweisbar ist, genauso wenig wie Gott.
Wenn ich annehme, ja sogar gutheiße, was kommt, einschließlich meinem Tod, was sollte mir da noch Schlimmes widerfahren? Und wenn ich bedenke, dass wir gar keine Wahl haben, was das Schicksal betrifft, lebe – und sterbe – ich leichter, wenn ich es annehme, statt dagegen zu kämpfen. Überspitzt formuliert können wir also wählen zwischen Kampf und Spiel.
Klingt das zu theoretisch? Ich erinnere mich an turbulente Disskussionen im Freundeskreis: „Wie kannst du all die Kriege, Mord und Totschlag, wie kannst du die Naturkatastrophen, Not, Elend und die großen Unglücke für gut heißen?“ Ja, das ist alles nicht schön und vielleicht sagt es sich aus der Position eines Lebens in Glück und relativem Wohlstand auch zu leicht: Würde das Universum, unsere höhere Macht, all das negativ Empfundene verhindern, wären wir unserer Verantwortung und damit unserer Freiheit beraubt. Viel Unheil ist schließlich vom Menschen gemacht.
Wenn uns Freiheit geschenkt ist, bedingt sie auch Verantwortung. Die interessante Frage ist also: Was kann ich konkret tun, um die menschengemachten Nöte lindern oder gar beheben zu helfen?
Nicht nur die Kriege, auch Hungersnöte müssten nicht sein. Wir sind es selbst, die dies zulassen oder gar aktiv daran beteiligt sind. Ich wage mich noch etwas weiter vor, auch, wenn es hartherzig und unmenschlich klingen mag: Wir nehmen das Aussterben ganzer Tier- und Pflanzenarten hin und sind sogar aktiv daran beteiligt. Hätten wir angesichts dessen ein Recht, das Aussterben des Homo sapiens zu kritisieren?
Das Universum ist so wunderbar eingerichtet, dass es sich immer wieder selbst reguliert hat. Aber wenn wir die Konsequenzen dieser Regulierung spüren, ob Tsunamis, Dürren oder Wirbelstürme, empfinden wir es als Katastrophe. Wäre nicht ein wenig Demut angebracht? Wenn wir uns selbst nicht als „die Macher“ sehen, sondern anerkennen, dass das Leben kommt, wie es will – ob uns das passt oder nicht, dann könnten wir doch das Leben einschließlich Tod viel gelassener nehmen. Noch einmal: Das heißt nicht, meine Verantwortung abzugeben! Oder habe ich irgendwo einen Denkfehler übersehen?
Rückblickend erwies sich so manche „Katastrophe“ in meinem Leben als ein Segen. Diese Erkenntnis lässt Gelassenheit zu. Und das Vertrauen darauf, dass alles, was kommt, zu meinem Besten sein wird! Das nimmt auch dem Tod seinen Schrecken.
Ich sehe den Tod als mein letztes großes Abenteuer. Nicht, dass ich mich darauf freue! Ich lebe sehr gerne und zufrieden. Aber ein wenig gespannt bin ich schon, wie das wohl sein wird. Schließlich werden die Todes-Erfahrungen nicht aus erster Hand übermittelt. Allerdings ist bekannt, dass die sogenannten „Macher“, die Menschen also, die nicht loslassen können, im Allgemeinen einen schwereren Tod sterben als diejenigen, die sich dem Leben, der höheren Macht, ergeben. All das sage ich unter dem Vorbehalt eines „Unerfahrenen“. Wer weiß, wenn es soweit ist, sieht das vielleicht ganz anders aus? Die Kommunikationsmöglichkeit aus dem Jenseits ist noch ungenügend, sonst würde ich einen Report als „Erfahrener“ schicken. Telekom und Co. arbeiten mit Hochdruck.
Und nach dem Tod? Danach erwarte ich nichts mehr. Mit dem christlichen Schreckgespenst vom „jüngsten Gericht“ kann ich nichts anfangen. Vielleicht ist diese Kirchenlehre schuld daran, dass der Tod bei den meisten Menschen so negativ behaftet ist. Ich deute diesen Ausdruck ganz irdisch: „Jüngst“ heißt für mich „jetzt, sofort, auf dem Fuß“. Das heißt nichts anderes, als dass unser ganzes Denken und Handeln unmittelbare Auswirkungen auf unser Dasein hat, und zwar im Jetzt, auf Erden, nicht irgend wann in der Hölle oder im Himmel.
Ich habe hier viel von Gott, der Schöpfung oder einer höheren Macht gesprochen. Jeder versteht etwas anderes darunter und das verursacht Missverständnisse. Deshalb will ich meine Sicht der Dinge kurz erläutern:
Diese drei Begriffe meinen das Gleiche. „Schöpfung“ ist vielleicht die treffendste Bezeichnung für etwas, das wir eigentlich nicht beschreiben können. Es ist eine ordnende Kraft, die ich schon an verschiedenen Stellen zuvor beschrieben habe. Es fügt sich alles wunderbar ein, greift ineinander, lässt einen Sinn erkennen, manchmal ohne dass wir ihn im Detail nachweisen oder erklären könnten, kurz: ein Wunder.
„Gott“ ist eine missverständliche Bezeichnung. Das liegt am Gottesbild der christlichen Religionslehre. Der „Allmächtige“ kann alles, sieht alles, weiß alles. Er regelt und ahndet alles auf seine Weise. Wir beten ihn an, bitten ihn, flehen ihn an, danken ihm. Das führt zu einem personifizierten Gottesbild. Die Hochgebete in den Gottesdiensten zeigen uns das anschaulich. Aber Gott braucht weder Bitten noch Hinweise auf unsere Missstände oder gar Handlungsempfehlungen aus unserer Sicht. Das ist nicht nur vermessen und kleingeistig, provokativ gesagt ist es sogar Blasphemie.
Ich will das Gebet nicht ganz verteufeln. Das „Gespräch mit Gott“ sehe ich als eine schnelle Nothilfe für den (Ver-) Zweifelnden, der daran glaubt. Ein fester Glaube – an was auch immer – kann Berge versetzen. Aber ein solches Gebet kann nur eine Krücke sein. Mich würde sie am aufrechten Gang hindern.
Ist ein solches Gottesbild eine Form der Selbstentmündigung, weil wir IHM die Verantwortung für alles zuschieben? Es suggeriert uns, nur „genug“ beten zu müssen, und alles wird gut. Dieses Bild wird dem Wunder der Schöpfung, Gott, dem Universum, nicht gerecht.
Ich sehe in Gott das Universum, alles Leben, alle Dinge. Und wir Menschen sind Teil davon, also auch Teil Gottes. Wenn wir Gott nahe sind, dann sind wir uns nahe und umgekehrt, denn wir sind untrennbar mit der Schöpfung, nach meinem Verständnis also mit Gott, verbunden. Die Nähe bestimmen wir weitgehend selbst durch unsere innere Haltung. Folglich kann der Atheist Gott so nahe sein wie der Fromme.
Wenn alles auf wundersame Weise geordnet ist, heißt das nicht, dass unser Leben vorherbestimmt ist. Es gibt aber bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die wir in weiten Teilen nicht erklären können. Es ist ein elementarer Unterschied, ob ich eine Fügung, die abzuwenden nicht in meiner Macht steht, in Gottvertrauen annehme oder ob ich die Hände in den Schoß lege und darauf vertraue, dass der „Allmächtige“ es schon richten wird.
Letztlich hat jeder sein eigenes Gottesbild, seine eigene Lebensauffassung und das ist gut so. Entscheidend ist, dass wir diese nicht werten und andere Glaubenskonstrukte nicht nur tolerieren, sondern auch ernst nehmen. Nur, wenn wir unsere eigenen Bilder und Einstellungen reflektieren, überprüfen und bereit sind, sie gegebenenfalls auch zu ändern, bleibt das Leben auch lebendig.
Die Zeit rinnt dahin. Mitternacht. Franz ist schon da und übernimmt die Wache. Ich bleibe noch ein wenig hier und gehe dann ins Bett.
Donnerstag, 14. Juli
8.30 Uhr. Die Nacht war lang. Ich habe schlecht geschlafen. War das wieder mal der Mond? Ich frühstücke Nudelsalat von gestern und als Dessert frisch gebackenes Brot. Später kommt Johann dazu.
Zwischendurch Delfinalarm. Wir sprinten alle hinaus. Diesmal sind es viele Tiere, große und kleine. Sie schwimmen zwischen den Rümpfen durch, springen, freuen sich, einen Spielgefährten zu haben. Sie bleiben vielleicht vier Minuten. Dann ist es wieder ruhig.
Um zehn Uhr übernehme ich. Der Wind hält uns zum Narren. Vier bis sechs Knoten aus Ost bis Nord. Wir sollen abweichend von unserer Kurslinie mehr nach Norden fahren, das sind im Moment etwa zehn Grad zum Wind. Johann will das Vorsegel herausholen und redet sich ein, dass wir so schneller sind. Die Erfahrung, dass der Katamaran erst ab 40 Grad zum Wind wirklich zieht, ignoriert er. Das Vorsegel steht, bringt aber nichts. Wir fallen zehn Grad ab, das bringt Nullkommadrei Knoten mehr. Der Wind verstärkt sich auf sieben bis acht Knoten. Johann will auch noch das Großsegel setzen. Ich höre schon wieder das Schlagen im Rigg. Das bringt doch nichts so hoch am Wind. Wir sollten lieber den nördlicheren Kurs beibehalten, damit wir Höhenreserve haben, wenn morgen die vorhergesagten 20 Knoten aus Nordost kommen. Dann könnten wir bequem 90 Grad laufen. Ich sage aber nichts mehr. Er hat seine eigene Strategie.
Im Moment macht mir eher unsere Gasversorgung Kummer. Wir waren großzügig mit unserem Ofen. Aufwändig kochen, immer wieder Kaffee kochen, Flammkuchen und Brot backen. Heute früh wird die Flamme gelblich. Ich prüfe die Gasflasche. Sie ist noch etwa halb voll. Wenn wir nicht sparsamer sind, wird uns in zwei, drei Tagen das Gas ausgehen.
Wir haben auch nicht mit neun Tagen gerechnet, eher mit sieben. In Horta hätten wir bis Montag auf das Füllen unserer Flaschen warten müssen. Ich kannte es bisher so, dass die Flaschen einfach getauscht werden. Aber das ist offensichtlich in jeder Region anders.
Nun geht mir durch den Kopf, dass wohl die harmonischste Crew ordentlich in die Krise kommen kann, wenn das Gas ausgeht. Peter dürfte seinen Espresso nicht mehr kochen, ich keine Flammkuchen mehr backen, das Abspülen ginge nur noch kalt, Kochen wäre nicht mehr möglich. Wir könnten nicht einmal Dosen erhitzen… Da geht die Stimmung schnell hinunter. Gegenseitige Vorwürfe könnten aufkommen. Der eine hat zuviel Gas verbraucht, der andere vergessen, abzudrehen, der dritte macht sich gar keinen Kopf und verbraucht lustig weiter, solange es brennt…
Ohne Kaffee kann man ja leben. Was ist, wenn wir kein Brot mehr haben, keine Dosen mehr wärmen oder Nudeln kochen können? „Das reicht dicke“, schätzt Johann. Er hat mehr Erfahrung mit diesen Flaschen. Lassen wir´s drauf ankommen. Sorgen mache ich mir keine. Wir werden schon satt und außerdem tut mir ein wenig Beschränkung sicher gut, wenn ich schon nicht freiwillig dazu bereit bin.
Peter macht sich seinen Espresso. Er hat in Horta eine sehr schöne, kleine Espressokanne erstanden. Er stellt sie immer auf die große Flamme. Als ich ihn mit einem Lächeln darauf anspreche, dass es doch effektiver sei, diese Miniaturkanne auf die kleine Flamme zu stellen, wehrt er ab. Das ginge schneller, hält er dagegen. So hat jeder seine Meinung.
Peter ist nett, meist rücksichtsvoll, oft sehr gesprächig und wenn er ausgeschlafen hat, immer gesellig. Sein technischer Sachverstand, ja Instinkt für Fehlerquellen hat uns auf dieser Fahrt, besonders bei den Reparaturen vor der Überfahrt, sehr geholfen.
Mindestens genauso hoch entwickelt ist sein Geltungsbedürfnis. Er lässt sich nicht gerne etwas sagen. Da wird diskutiert und wenn er so nicht weiter kommt, ignoriert. Das meiste Zeug, das im Salon herumfliegt, ist von ihm. Und wenn im Kühlschrank etwas knapp wird, schlägt er nochmal richtig zu. Wir haben alle unsere Macken, sehen sie aber gerne in gütiger Gelassenheit.