6. Nach Osten – Richtung Azoren

6. Nach Osten – Richtung Azoren

Die Stille genießen

Montag, 27. Juni

Um zwei melde ich mich zur Wache. Der Wind war nur kurz weg, bläst Agate mit 4-5 Windstärken auf sieben bis acht Knoten Richtung Nordost. Traumhafte Bedingungen. Der Himmel ist voller Zuckerwatte. Nur Casiopaia und Zwillinge sehe ich durchblitzen. Wir fahren vermutlich am Rand eines Tiefdruckgebietes, bei ständig wechselnden Windrichtungen. Mal am Wind, mal raumer Wind oder Halbwindkurs.

Ich merke deutlich, dass wir schon über dem 34. Breitengrad sind. Die Temperaturen sind angenehm, die Dämmerung dauert wesentlich länger. Das verlängert auch den Tag.

Da gibt es tatsächlich mitten auf dem Atlantik eine Untiefe von 5 m, bei Position 35.40 N und 051.40 W. Da könnten wir eigentlich mal den Anker werfen. Wäre sicher ein sonderbares Gefühl. Johann will die Untiefe großräumig umfahren, obwohl überhaupt keine Gefahr besteht, dass wir mit 1,4 m Tiefgang auf Grund liefen. Unsere aktuelle Position um 17.30 Uhr: 35.28 N und 056.20 W.


11.00 Uhr. Es ist sonnig, im Schatten fast schon kühl. Wolkenloser Himmel, stahlblaues Wasser.

Ich sitze am Steuerstand und lausche der Melodie des Windgenerators. Der Wind flößt ihm die Melodie ein. Der Generator singt sie mir, innerhalb einer Quinte in Schleifen. Seit 11 Tagen in Variationen. Etwas eintönig, aber Harmonielehre hat man ihm noch nicht beigebracht.

Ein Singen in den Wanten wäre mir lieber. Das beginnt so bei 6-7 Windstärken. Dann wird das in Häfen ein richtiges Orchester. Bislang kamen wir über fünf Beaufort noch nicht hinaus.

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Ein gutes Team

Das Wache gehen ist Hauptbestandteil des Bordalltags. Der ist längst zur Routine geworden. Wer einen Essenswunsch oder eine Kochidee hat, meldet sich zum Küchendienst. Das hat bisher immer gut geklappt. Die frischen Lebensmittel werden allerdings rar. So macht auch das Kochen nicht mehr so viel Spaß. Es beschränkt sich immer mehr auf Dosenfutter. Geht halt nicht anders. Unsere Äpfel haben wir zur Hälfte weg geworfen. Nur wenige gute sind noch da. Einzig die Karotten haben sich im Kühlschrank gut gehalten. Bei den Kartoffeln haben wir auch Ausfälle. Jetzt ist Phantasie gefragt, wenn es darum geht, aus dem, was da ist, ein schmackhaftes Gericht zu zaubern. Peter versteht das ganz gut.

Auch als Team sind wir zusammen gewachsen. Anfängliche Spannungen verflogen. Ich genieße das Miteinander. Einer für alle, alle für einen. Wir wissen immer mehr voneinander, durch erzählen, beobachten, wahrnehmen. Wir kennen gegenseitige Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen und so läuft das Miteinander rund.

Sonnenaufgang

DSC03466Die aufgehende Sonne zaubert wieder fantastische Bilder an den Horizont. Über mir ist es wolkenlos. Meist sind die Wolken nur am Horizont. Jetzt leuchten sie auf breiter Front im Osten, genau voraus. Sie verschieben sich, aus dem Bär wird ein Nikolaus, ein Fisch, eine Eidechse mit feuerrotem Schwanz. Die Phantasie treibt ihre Blüten. Morgenrot, verspricht uns das Wind?

Heute habe ich tagsüber wachfrei. Ich nutze die Freizeit für die nötigste Wäsche. Das hab ich mir genau ausgerechnet für die nächsten acht Tage, da darf aber keine Flaute mehr dazwischen kommen. In Horta gebe ich dann den ganzen Wäschesack ab. Einmal waschen und trocknen bitte.

Nachtwache wie im Bilderbuch

DSC03311Ich genieße die lange Dämmerung. Um neun ist es richtig dunkel. Noch lange schaue ich in die Ferne, ins Abendrot. Dann ist es wieder Zeit fürs Tagebuch. Das besteht im Wesentlichen in der Wiedergabe meiner Eindrücke, Erlebnisse, Emotionen. Ich würde am liebsten drauf los schreiben, könnte beinahe vorherige Seiten kopieren. Ich habe Sonne, Mond und Sterne beschrieben, über Wind, Wasser und Wellen erzählt. Es hat sich nichts geändert, es ist immer noch unbeschreiblich ergreifend und doch erlebe ich es neu. Alles ist bekannt und doch wieder anders, verändert sich und hinterlässt wieder neue Eindrücke, lässt Raum und Zeit vergessen.

Sternschnuppen regnen buchstäblich herab. Die Vielzahl der Sterne bringt mich wieder durcheinander. Ich brauche lange, bis ich bekannte Sternbilder finde und mich dann vom einen zum nächsten hangele. Die Nacht ist außergewöhnlich dunkel. Der schmale Mond versteckt sich hinter den Wolken, einzig die Sterne bringen etwas Licht. Die dunklen Wolken in der Ferne lassen den Horizont nicht mehr erkennen. Sanfter Bodennebel gibt dem ruhigen Meer eine geheimnisvolle Note.

Meine Gedanken schweifen von der Ferne nach zuhause. Nein, Heimweh hab ich nicht, noch nie gehabt. Aber ich möchte gerne bald wieder bei Gabi sein, sie in den Arm nehmen können, mit ihr einschlafen und aufwachen, mir morgens den Rücken kratzen lassen.

Endlich Wind!

Um Mitternacht dreht der Wind zurück und ich gehe auf Zielkurs 83 Grad. Die Bewölkung nimmt schnell zu, der Wind auch, der Himmel wird dunkel. Rabenschwarze Nacht. Eine kräftige Düngung aus Süd verspricht ordentlich Wind. Mal sehen, was der Tag so bringt.

Um acht Uhr sitzt Peter auf dem Steuerstand und hat ein breites Grinsen drauf. „Geiler Wind!“. Der hat ganz schön zugelegt. Bis 10 Uhr fahren wir bei 20 Knoten Wind immerhin 9-10 Knoten.

Um zehn Uhr darf ich Gabi nochmal anrufen mit dem Satellitentelefon. Wir machen es kurz. Es geht hauptsächlich darum, ob ich auf den Azoren aussteige oder bis Portugal mitfahren kann. Ich kann, keine besonderen Vorkommnisse, die Anfragen können warten, sind schon informiert. Klasse!

Jetzt macht´s erst richtig Spaß, die Wanten singen, das Herz geht auf. Lange Dünung aus Süd und kurze Welle aus Südwest ergeben 2-3 m unruhige See. Agate durchschneidet sie mit ihren schmalen Rümpfen. Das macht sie bravourös. Aber die Wellen sind ihr zu hoch. Ständig schlagen hohe Wellen auf den nur ein Meter hohen Brückenboden. Ich stehe gerade im Salon und unterhalte mich mit Johann über die Lage, da schlägt wieder so ein Brecher von unten zu und ich spüre richtig, wie der ganze Salonboden hochgedrückt wird. Der Wasserkessel auf dem Herd springt hoch und landet auf Halbmast.

DSC03540Welche kolossalen Kräfte wirken da auf so ein Häufchen Kunststoff. Das tut mir richtig weh, als hätte man Agate einen Backenzahn gezogen. Nun haben wir lediglich Windstärke sieben, in Böen acht. Wie wird das bei einem ausgewachsenen Sturm, dem sie ja nach Zertifizierung auch standhalten muss? Und das möglichst ohne dauerhafte Materialermüdung. Auch die beiden Rümpfe, die arbeiten gegeneinander. Die müssen verdammt hohe Kräfte wegstecken können. Peter sagt schon seit Tagen, dass das Knarzen an der Bugverspannung stärker wird.

Ein Einrumpfboot ist kibbeliger, krängt stark, aber es ist ein kompakter, geschlossener Kräftekreis. Da fühlte ich mich bei schwerer See doch sicherer. Aber davon sind wir ja noch Welten entfernt. Klingt dramatischer, als es ist. Man muss sich nur erst dran gewöhnen nach 14 Tagen Kaffeesegeln.

Manchmal sehe ich den Horizont nicht mehr. Draußen bleibe ich nicht, weil mir die Gischt ins Cockpit spritzt und meine Klamotten mit Salzwasser tränkt. Dem Autopiloten ist das egal. Heute Nacht ist doch noch Ölzeug angesagt.

Wir sehen Delfine. Zwei, fünf, viele. Sie springen richtig hoch, bleiben aber in respektvollem Abstand. Nach zwei Minuten sind sie wieder verschwunden. Sie könnenen gut mithalten bei 8-9 Knoten, aber vielleicht nicht auf Dauer.

Zwischendurch wärmen wir die Suppe von gestern und essen frisch gebackenes Brot dazu. Für heute Abend beschließen wir, nur Brotzeit zu machen. Bei dem Seegang hat keiner Lust zu kochen und außerdem gibt es eh nur Dosenfutter. Horta, bitte ein halbes Rind für uns drei!

Wenn das so weiter geht, sind wir in vier, statt sieben Tagen da. Unser Etmal war heute schon bei 165 SM, vielleicht reißen wir ja noch die 200er Marke.

Richtig starker Wind

Sonntag, 3. Juli

„Hans, langsam aufstehen“! Johann hat gerufen. Johann? Der sollte doch seit 4 Stunden in der Koje liegen. Da muss was im Gange sein. Ich hab verpennt. Kein Wunder. Es ist fünf nach zwei. Ich bin noch in Trance. Suche meine Schwerwetterklamotten zusammen, ziehe mich ziemlich umständlich an und komme hoch. Meine Stiefel hab ich in der Eile nicht gefunden, komme in Schlappen.

„Hans, wir müssen Reffen, 35 Knoten Wind“. Peter übernimmt das Großfall und die Großschot am Steuerstand, ich die Reffleinen an der Steuerbordwinsch, Johann tanzt auf dem Deck herum, als wolle er uns eine Vorstellung geben. Nach fünf Minuten ist Reff drei wieder drin. Die Genua soll ich erst mal lassen, bei nachlassendem Wind wieder etwas zugeben…

Langtörn ist anders

Das „irdische Leben“ ist ziemlich weit weg. Ich vermisse kein Fernsehen, keine Nachrichten, nicht mal meine Arbeit. Internet wäre nicht schlecht hier. Da könnte ich nach den vielen Fragen googlen, die sich immer wieder stellen zu Meer, Fischen, Vögeln, ja auch nach Kochrezepten könnte ich suchen oder nach dem Wetter schauen.

Ich fühle mich hier draußen in einer eigenen Welt. Einer ganz kleinen Welt auf vielleicht 70 qm. Ich vermisse nichts, entdecke jeden Tag, jeden Augenblick etwas Neues, am Schiff, auf dem Wasser, am Himmel. Langweilig wird das nicht. Und wenn die Natur uns Sondereinlagen gibt, ist richtig Stimmung!

Immerhin sind wir nicht ganz abgeschnitten. Johanns Sat-Telefon gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. Im Notfall könnten wir zumindest Hilfe rufen. Ob die käme, rechtzeitig käme, sei dahin gestellt.

Eigentlich müsste ich mich auch viel besser mit Motoren auskennen. Jetzt haben wir Peter dabei, unser Technikfreak. Er weiß natürlich, wo er hinlangen muss, wenn der Diesel mal stottert. Ich hab auch schon einiges gelernt von ihm. Aber ob ich einen kaputten Motor wieder in Gang brächte?

2018-05-05T20:51:41+02:00

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