• Fehlstart

Mittwoch, 15. Juni.

Um sieben Uhr richte ich das Morgenbüffet. Um halb acht frühstücken wir gemeinsam. Dabei besprechen wir den Tagesplan und schreiben eine Einkaufsliste. Es kommt einiges zusammen. Über 200 € wird uns diese Shoppingtour sicher kosten. Um neun Uhr kommt Manfred, um zusammen mit Peter den Regler zu installieren.

Johann und ich wären dabei nur im Weg. Deshalb gehen wir währenddessen schon mal einkaufen und fahren dazu mit dem Dingi an die Pier. Johann beschließt spontan: „Ich will da hinten am Marinaladen noch ein paar Schrauben kaufen. Ich bin gleich wieder bei dir, fang schon mal mit dem Einkauf an“. Ich erinnere ihn nochmals daran, einen Sonnenschutz mitzubringen. Ein Kunststoffgewebe von etwa ein mal zwei Metern Größe, mit vier Ringösen zum Festzurren, reicht vollkommen aus.

Ich gehe also alleine einen knappen Kilometer stadtauswärts zum Supermarkt und kaufe ein, was mir von unserer Liste noch im Gedächtnis geblieben ist. Johann hat sie nämlich dummerweise mitgenommen. Eine Stunde später kommen mir erste Zweifel, ob wir vom gleichen Supermarkt gesprochen haben. Nach über eineinhalb Stunden trudelt er endlich ein. Sein Dauerlächeln wirkt etwas zerknittert, und er scheint auch nicht so recht bei der Sache zu sein. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ihm eine Laus über die Leber gelaufen ist. Die Schrauben hatte er nicht gekauft. Das war ihm zu weit gewesen. Er war aber stattdessen in einer Bar, um etwas zu trinken.

Hans“, sage ich zu mir, „sag jetzt nichts, das ist besser für dein Karma“. Wir machen den Resteinkauf zusammen und bestellen uns dann ein Taxi für den Heimweg. Während wir auf dessen Ankunft warten, zieht Johann das Vorhängeschloss aus der Tasche und flucht: „Oh Mann, ich hab das Beiboot nicht abgeschlossen, ich muss schleunigst zum Boot laufen. Wer weiß, wann das Taxi kommt. Das dauert mir zu lange“. Den Lauf zum Dingi übernehme ich für unseren Skipper, bin aber auch nur kurz vor ihm dort.

Das Beiboot hat glücklicherweise unversehrt auf uns gewartet. Wir laden den Einkauf ein, fahren zum Schiff und verstauen unsere neuen Vorräte. Manfred ist mit seiner Arbeit fertig und hat Peter währenddessen die Anlage erklärt. Dem Autopiloten haben die beiden einen neuen Geber verpasst. Er ist außerdem neu justiert und getestet worden. Jetzt können wir mit gutem Gefühl in See stechen. Wir räumen unser Werkzeug weg und klaren das Schiff auf.

Um 15:00 Uhr essen wir eine Kleinigkeit und dann testen wir die Entsalzungsanlage – aber immer noch ohne Erfolg. Um 17:15 Uhr legen wir an der nahe gelegenen Tankstelle an, tanken 800 Liter Wasser und füllen 17 Liter Diesel nach. Bei sieben Stunden Fahrt ist das sehr sparsam.

Es dauert fast eine Stunde, bis die Wassertanks voll sind. Zurück am Ankerplatz trinken wir zusammen ein Feierabendbier. Dann duschen wir uns endlich mal wieder mit Süßwasser und fahren zum Spinnaker auf ein weiteres Feierabendbier und um uns von den Lieben daheim zu verabschieden.

Wir haben es uns – bei Pizza, Wein und zum Abschluss einem guten, alten Rum – richtig gut gehen lassen. Zu vorgerückter Stunde erzählt uns Johann, was ihn heute früh so aufgeregt hat: „Susanne ist früh um sechs Uhr Ortszeit in Amsterdam gelandet. Statt sich für 20 Euro einen Fernbus zu suchen oder mit der Bahn weiter zu fahren, hat sie sich gleich einen Flug nach Düsseldorf gebucht. Den hat sie dann auch noch von meinem Konto bezahlt. Ich bin stinksauer.“

Mit ziemlich schwerem Kopf fahren wir zum Schiff zurück und ich falle schnurstracks in die Koje. Morgen endlich werden wir auf große Fahrt gehen.

Donnerstag, 16. Juni.

Heute Vormittag wollen wir in See stechen. Ein bisschen mehr Tempo und wir hätten gestern um 16 Uhr Anker auf gehen können. Aber Johann wollte für die Fahrt durch die Engstelle Tageslicht haben, obwohl wir alle technische Ausrüstung und auch die Übung haben, die wir für eine Nachtfahrt brauchen. Den wahren Grund für die Verzögerung erfahre ich nicht.

Ich sitze, wartend auf eine Ansage Johanns, auf der Treppe am Heck und schaue zum weiten Horizont, aufs türkisblaue Wasser, auf den Grund. Plötzlich sehe ich einen langen, schlanken, schwarzen Riesenfisch, nur zwei Meter von mir entfernt, bei drei Metern Wassertiefe. Dann noch einen, und schließlich einen ganzen Schwarm zwischen den beiden Rümpfen des Katamarans. Das müssen Barrakudas sein, über einen Meter lange Fische! Manfred hat davon erzählt. Es gibt viele Barrakudas in der Karibik. Allerdings gehören sie geschmacklich nicht gerade zu den Edelfischen. Man könnte sie beinahe schon mit dem Kescher fangen. Aber das wäre hier in der Bucht, mit so vielen Nachbarn sicher keine gute Idee. Außerhalb der Hoheitsgewässer, also zwölf Seemeilen vor der Küste, dürfen wir angeln. Wir erfreuen uns also an den Fischen und beobachten sie eine Weile.

Nach dem Frühstück fahren wir an die Pier. Johann muss beim Zoll ausklarieren, Peter will ins Internet und ich begebe mich auf die Suche nach einem schönen Mitbringsel für Gabi. Etwas typisch Karibisches soll es sein, am besten etwas zum Anziehen, möglichst nichts aus Kunststoff. Gabi bevorzugt gedeckte Farben in Blau- oder Rosatönen. Ein Oberteil oder Wickelrock könnte ihr gut gefallen. Ich laufe die Marktstände an der Pier entlang und jeder Händler bietet mir das vermeintliche Geschäft seines Lebens an. Gehe ich einfach weiter, halbiert sich der Preis. Aber ich will gar nicht den Preis drücken. Es ist einfach nichts dabei, von dem ich mir vorstellen könnte, dass sie es gerne trägt. Daran ändern auch die „special offers“ nichts. Ich gehe ins Zentrum und klappere die Geschäfte ab. Sie haben alle die gleichen Sachen: grell gefärbte Textilien aus Synthetikfasern, hergestellt in Fernost. Keine Spur von typischer Karibikkultur. Die Modefachgeschäfte hingegen haben nur das, was man bei uns auch bekommt: Benetton & Companies. Etwas frustriert komme ich zum Treffpunkt zurück und wir setzen gemeinsam zum Schiff über.

Wir bauen den Außenbordmotor vom Dingi ab und verstauen ihn sicher in der Backskiste am Bug. Peter und ich verzurren das Beiboot und verstauen auch im Salon alles so, dass bei Schwerwetter nichts durcheinander fliegen kann.

Um zwölf Uhr rufe ich Gabi an und lasse sie wissen, dass wir jetzt losfahren. Sie muss sich also auf eine „Sendepause“ von ungefähr drei Wochen einstellen. Zu unserem Leidwesen funktioniert die Entsalzungsanlage aber noch immer nicht. Johann und Peter werkeln eifrig an ihr herum, während ich etwas zu essen vorbereite. Um 13.30 werde ich energisch und erinnere den Skipper an unseren Zeitplan: „Johann, wenn ihr beiden unterwegs Langeweile habt, könnt ihr euch gern an der Entsalzungsanlage austoben, aber wir sind nicht darauf angewiesen. Wir haben für drei Mann 800 Liter Wasser an Bord. Das reicht nun wirklich aus. Im Notfall müssen wir uns eben etwas einschränken. Ich bin ziemlich genervt von diesen ständigen Verzögerungen und will jetzt endlich los!“ Das sieht er ein und ruft zum Aufbruch.

Um 14 Uhr gehen wir Anker auf. Heute ist es Zeit für das zweite Grußröllchen von Gabi:

Jeden Morgen rede ich mir ein, dass mir tagsüber ein kleines Wunder begegnen wird und siehe, es findet sich eins“ (Erwin Strittmatter). Im Gegensatz zu Strittmatter brauche ich mir das nicht einzureden. Ich bin davon überzeugt. Schließlich lebe ich inmitten von Wundern, ich muss sie nur wahrnehmen.

Zunächst führt uns der Kurs zwischen San Martin und Anguilla Richtung Osten. Der Wind kommt genau von vorn. Johann will, dass ich unter Segeln fahre, also gegen den Wind kreuze. Ich protestiere: „Johann, wir müssen für die zehn Meilen sechs, sieben Stunden gegen den Wind ansegeln. Mit nur einem Motor hätten wir das mit Autopilot in nicht einmal zwei Stunden hinter uns. Das sind drei Liter Diesel. Nur drei Liter!“

Er schmettert meinen Protest ab: „Du wirst sehen, wenn wir Flaute haben, bist du froh um jeden Liter“. Ok, ich füge mich zähneknirschend. Er ist der Boss.

Johann und Peter hissen die Segel und wir kreuzen hoch am Wind. Danach bringt Peter die Angel aus und bestückt sie mit einem pinkfarbenen Gummiköder. Es dauert keine Stunde, da beißt tatsächlich ein Fisch an. Kein Großer, denken wir, weil er weder zappelt, noch kämpft. Es ist ein 80 Zentimeter langer Barrakuda. Wir erinnern uns an Manfreds Worte: „Von denen gibt es viele hier und sie sind leicht zu fangen. Das ist der faulste Fisch, den man sich denken kann. Der rührt sich nicht am Haken“. So ist es auch.

Johann holt den Fisch an Bord, Peter schüttet ihm einen Schuss Rum in die Kiemen und er rührt sich nicht mehr. Ein Stich ins Herz, dann haucht er sein Leben aus. Johann schneidet Kopf und Schwanz etwas ein und dann die beiden Filets heraus. Das Gerippe werfen wir über Bord. Andere Fische werden sich darüber freuen.

Heute Abend gibt es also frischen Fisch. Frischer, als vom Haken in die Pfanne, geht es nun wirklich nicht mehr. Johann schuppt die Filets ab, träufelt Zitronensaft darüber und lagert sie im Kühlschrank. Anschließend backt er Brot.

Der Kreuzkurs zehrt derweil an meinen Nerven, weil wir kaum Höhe gewinnen. Wir machen zwar sechs Knoten Fahrt, kommen aber unserem Zielpunkt nur mit gut einem bis anderthalb Knoten näher. Bei einem Urlaubstörn lasse ich mir das gefallen, denn für kurze Zeit macht das Am-Wind-Segeln durchaus Spaß. Aber wir haben 3600 Seemeilen vor uns und sollten auch weiterkommen. Die Sonne brennt mir auf die Waden. Meine Füße schwellen an. Ich muss hinunter, mir eine lange Hose anziehen. Jetzt bräuchte ich dringend den Sonnenschutz, um den ich Johann schon auf Martinique und San Martin gebeten habe. Warum nimmt er mich nicht ernst, wenn ich sage, dass ich sonnenempfindlich bin?

Um 17 Uhr essen wir den frischen, panierten Barrakuda. Während des Abendessens gesteht mir Johann zu, mit Motor zu unterstützen und etwas abzufallen, damit wir mit Autopilot fahren können.

Um 18 Uhr übernimmt Peter die Wache und merkt schnell, dass dieser Kurs zermürbend ist, weil er immer sehr konzentriert den Kurs zum Wind halten muss. Ständig fällt er ab, wird dann zwar schneller, tritt aber im Hinblick auf unser Ziel auf der Stelle. Ich beginne derweil, meinen Frust im Tagebuch herauszulassen. Es dauert keine Viertelstunde, da will Johann die Wanten nachspannen, obwohl er weiß, dass das nicht funktionieren wird. Er hat es ja bereits auf Martinique probiert. Also soll ich wieder ans Ruder gehen, damit Peter ihm helfen kann. Tatsächlich schlackert die leeseitige Want.

Wir fahren zurück!

Die beiden probieren, beraten und teilen mir nach zehn Minuten mit, dass wir zurückfahren. Ich halte es für einen Scherz, bis wir tatsächlich umkehren. Nun, er trägt die Verantwortung und muss auch die Entscheidung für uns alle treffen. Sicherheit geht vor, da sind wir uns schließlich alle einig.

Auf der Rückfahrt haben wir den Wind im Rücken, Schmetterling – also eigentlich ein auch für Peter einfach zu steuernder, gemütlicher Kurs. Und jetzt plötzlich gesteht er Peter zu, bei Rückenwind beide Motoren anzuwerfen und die Segel einzuholen! Das ergibt selbst bei viel gutem Willen – an dem es mir allmählich zu mangeln beginnt – keinen Sinn.

Ich rede keine Silbe mit Johann, sondern schreibe meine Wut heraus. Sonst gibt es einen ernsten Krach und ich fliege nach Hause. Ein Wunder, dass mein iPad noch nicht glüht. Johann telefoniert derweil mit Manfred. Er soll morgen kommen und die nötigen Wantenspanner mitbringen. Ich verziehe mich ohne Gruß in die Koje.

Um kurz vor neun sind wir wieder in der Bucht von Marigot. Zum Schlafen kam ich natürlich nicht, aber ich habe mich zumindest so weit im Griff, dass ich Johann nicht an die Gurgel gehe.

Ich komme an Deck, um beim Ankern zu helfen. Eigentlich braucht man dafür nur zwei Mann. Einer steuert, der andere bedient die elektrische Ankerwinsch. Der Anker ist gefallen, aber Johann ist nicht sicher, ob der Flunke hält. Ich gehe zum Bug vor und will den Halt an der Ankerkette überprüfen, indem ich einfach die Hand darauflege. Man spürt es sofort, wenn der Anker schliert. Ich rufe Johann zu, sachte zurückzufahren, um den Halt zu prüfen. Aber Peter warnt mich ungeduldig, ich solle die Hand da wegnehmen, er werde die Kette wieder einholen. Was geht in ihm vor? Hat er nicht kapiert, worum es geht? Geht man so miteinander um, wenn man zusammen auf große Fahrt gehen will? Ich fühle mich hier jedenfalls eindeutig überflüssig.

Gehen oder bleiben?

Nachdem das Ankern im zweiten Versuch glückt, kommt Johann und entschuldigt sich. Na ja, so etwas in der Art. Er kommentiert: „Vielleicht habe ich auch Macken, an denen ich arbeiten muss, aber du darfst das alles doch nicht so ernst nehmen. Morgen erneuern wir die Wantenspanner und fahren dann gleich wieder los“. Allein mir fehlt der Glaube an seinen Zeitplan.

Ich konfrontiere ihn mit seinen fragwürdigen Entscheidungen: „Warum hast du die Wanten nicht in Martinique erneuert, spätestens nach den drei Tagen Segeln bis San Martin? Warum lässt du mich gegen den Wind ansegeln, holst aber bei Vorwindkurs die Segel ein und fährst mit zwei Motoren zurück?“ Er kann mir nicht erklären, was er sich dabei gedacht hat.

Vielleicht war es auch nur Schikane, eine Retourkutsche für mein ständiges Drängen auf konzentrierteres Arbeiten? „Auf dieser Strecke sind wir schon immer gegen den Wind gesegelt, deshalb war es für mich gar keine Option, zu motoren. Mehr musst Du da nicht hineininterpretieren“. Er gibt sich nun so übermäßig freundlich, dass es mir schon unangenehm ist. „Komm, sei nicht mehr sauer, ich tue auch alles für dich! Jetzt trinken wir ein Bier zusammen und dann vergiss deinen Ärger. Du wirst sehen, wir werden ein prima Team“.

Nach dem zweiten „Versöhnungsbier“ und einem Gin Tonic verabschiede ich mich in die Koje. Das war in jeder Hinsicht ein heißer Tag.

An Schlaf ist nicht zu denken. Zum ersten Mal beschäftige ich mich ernsthaft mit dem Gedanken, den Flug nach Hause anzutreten. So nett, gesellig und kumpelhaft Johann auch ist, er hat einige Probleme, die mich an ihm zweifeln lassen: Er trifft nicht nachvollziehbare Entscheidungen, hat weder einen Plan noch den nötigen Überblick und ist schlicht unzuverlässig.

Und noch etwas: Als Skipper ist er mental nicht sehr belastbar. Schon bei einfachen An- und Ablegemanövern ist er aufgeregt, angespannt und dann ist es ihm nicht mehr möglich, Informationen aufzunehmen, einfach zu hören, was andere ihm sagen. Alles läuft nach festem Schema ab. Ein Reagieren auf neue, unerwartete Situationen fällt ihm schwer. Deshalb macht er alles so, wie er es schon kennt. Das ist mir schon in vielen Situationen aufgefallen. Aber es gibt beim Segeln immer unvorhersehbare Situationen, die eine besonnene Entscheidung und Anweisung erfordern. Wie wird er wirklich gefährliche Situationen meistern?

Ich mache mir Sorgen, dass ein kameradschaftliches, vertrauens- und respektvolles Miteinander an Bord nicht möglich ist. Johann und Peter verstehen sich sehr gut und das sei ihnen auch gegönnt. Aber Peter hat leichtes Spiel, Johann um den Finger zu wickeln. Das versteht er brillant! Es gab schon viele Situationen, in denen Peter seinen Willen durchgesetzt hat und Johann nur als „Sprachrohr“ fungierte, zuletzt gestern Abend bei der Rückfahrt. Das führt jedoch zwangsläufig zu Fehlentscheidungen, weil der Skipper sie nicht sachlich, aufgrund seiner Erfahrung und seines Wissens fällt.

Ich will nicht das fünfte Rad am Wagen sein, wenn die beiden sich zusammentun. Dann können die ­drei Wochen auf See für alle zur Qual werden. Um diesen Preis will ich nicht mitfahren.

Andererseits: 1500 Euro habe ich schon in die Anreise und die Bordkasse investiert. Der Rückflug würde mich weitere 1000 Euro kosten. Auch mein Lebenstraum wäre damit ausgeträumt. Wo ist mein Anteil an dem Desaster? Muss ich meine Abneigung gegen Johanns Eigenheiten überwinden? Wäre das nicht leichtsinnig? Interpretiere ich zuviel in die Handlungen anderer hinein? Unterschätze ich Johann? Scheue ich vor weiteren Auseinandersetzungen zurück? Warum kann ich dieses zwischenmenschliche Chaos nicht als Herausforderung begreifen, der ich im Alltag eher ausweichen würde? Werden wir diese Krise überwinden und als Mannschaft wieder zusammenwachsen? Würde sich Johann im Ernstfall helfen lassen, mir Gehör und Vertrauen schenken?

Das will alles gründlich durchdacht sein. Und zwar jetzt. Denn ein Aussteigen auf hoher See gibt es nicht mehr. Ich muss darüber schlafen. Morgen wird mein Kopf etwas kühler sein und ich werde die richtige Entscheidung treffen. Entweder fliege ich nach Hause oder wir setzen die Reise zu dritt fort.

Freitag, 17. Juni.

Um halb acht Uhr komme ich an Deck. Peter sitzt auf dem Vorschiff und zeigt schon durch seine Körpersprache, dass er seine Ruhe haben will. Johann sitzt im Cockpit. Ich setze mich zu ihm. Er versucht, schön Wetter zu machen, aber auf Smalltalk habe ich gerade gar keine Lust. Ich will wissen, woran ich bin. Und ich will Antworten finden. Mittlerweile bin ich wieder etwas ruhiger und kann sachlich mit ihm reden.

Ich teile ihm meine Bedenken mit. All das, was mich in der letzten Nacht beschäftigte, kann ich ihm sagen. Der Ausgang des Gesprächs sollte mir zeigen, was ich zu tun habe. Ich staune über mich selbst ob meiner inneren Ruhe. In solchen Situationen neige ich eher zu wütenden Ansprachen, die all den angestauten Frust herauslassen. Er hört mir zu. So ergibt sich ein sehr ruhiges und sachliches Gespräch, währenddessen ich Johann als ernst zu nehmenden, sogar reflektierenden Menschen erlebe.

Auch er dachte über den gestrigen Vorfall nach und kann meinen Ärger nachvollziehen. Er versucht zunächst, mich zu beschwichtigen, räumt aber einen Anteil an dem Zerwürfnis ein. Er hätte mich zumindest in seine Entscheidung einbeziehen müssen, will auch nicht mehr um jeden Preis auf seinen seglerischen Gewohnheiten bestehen, sich mehr sagen und mir mehr Freiheit lassen in nautischen Dingen. Er ist auch bereit, mehr Verantwortung abzugeben.

Der gestrige Vorfall ist gleichzeitig Anstoß zum Gespräch über die Dinge, die uns in den vergangenen zwei Wochen gestört haben. Im Zuge dessen sprach auch er seine Kritik an mir aus. Ich dürfe nicht so mimosenhaft reagieren, solle ihn auch mit seinen Fehlern als Mensch wie als Skipper akzeptieren. Er wisse durchaus darum. Im Gegenzug verspricht er sowohl mehr Offenheit als auch mich in seine Überlegungen stärker mit einzubeziehen.

Das klingt vielversprechend! Zum ersten Mal während der letzten zwei Wochen habe ich das Gefühl, dass Johann es ernst meint, dass er seinen Worten auch Taten folgen lässt. Die Wolken an meinem geistigen Horizont hellen sich allmählich auf. Ich glaube, er meint es ehrlich. Und mit seiner Kritik lag er durchaus richtig: Ich reagiere zu empfindlich, interpretiere zuviel und verurteile zu Unrecht. Drei Aufgaben, die zu lösen mir in den nächsten Wochen bevorstehen. Die fehlende Toleranz gegenüber Menschen, die meinen Werten nicht entsprechen, ist – so vermute ich – mein größter Fehler.

Unser Resümee ist gleichzeitig ein gegenseitiges Versprechen: Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse werden wir in Zukunft sofort offen ansprechen. Wir überwinden uns beide, respektieren einander und schauen gemeinsam nach vorne auf unsere Aufgabe. Das klingt beinahe wie ein Eheversprechen. Ich sehe eine schwere Herausforderung auf mich zukommen, will mich ihr aber stellen. Das verspricht, spannend zu werden.

Neue Wantenspanner

Um neun Uhr wollte Manfred kommen. Er ruft an, um uns mitzuteilen, dass er selbst die Wanten nicht nachspannen kann. Manfred hat aber eine Spezialfirma für Segelriggs in Philippsburg, im holländischen Inselteil, beauftragt, die sich unseres Problems annimmt. Die beginnt jedoch erst mit der Arbeit, wenn ein offizieller Auftrag samt Kreditkartennummer vorliegt. Wir sollen sofort die zehn Meilen um die Insel herum nach Philippsburg fahren und dort in der Bucht an der Zugbrücke auf Manfred warten. Gesagt – getan: Gegen zwölf Uhr liegen wir in besagter Bucht vor Anker.

Um 13 Uhr kommt Manfred mit zwei Rigg-Fachleuten, die sich die Sache ansehen. Sie probieren – es rührt sich nichts. Die beiden Wantenspanner sitzen fest. Das müssen sie in der Werkstatt in Angriff nehmen. Wir sollen beim Immigration Office einklarieren und dann das Brückengeld bezahlen. Um 15 Uhr fahren wir durch die hochgezogene Brücke und Manfred geleitet uns mit seinem Boot durch das Hafenlabyrinth zu der Werft. Wir können uns glücklich schätzen, dass uns heute, am Freitagnachmittag überhaupt noch ein Handwerker weiterhilft. Die größeren Betriebe sind um diese Zeit meist schon geschlossen.

Es ist eine größere Bootswerft, die offensichtlich auch Reparatur- und Serviceaufträge für mehrere Millionen Euro teure Luxusyachten ausführt. Neben uns, auf der anderen Stegseite, liegt ein Katamaran, gegen den Agate wie ein Zwerg wirkt: Über zwanzig Meter lang und 11 Meter breit, mit Wohnkomfort auf zwei Etagen. Das ist eine schwimmende Luxus-Suite und ganz oben auf dem Sonnendeck mit einem zusätzlichen Außensteuerstand.

Jetzt geben zwei gute Leute ihr Bestes: Mit Schneidbrenner und schwerem Gerät schneiden Sie einen Wantenspanner heraus und erneuern ihn, dem anderen können sie durch erhitzen mit dem Brenner wieder Leben einhauchen und nachspannen. Ich laufe zwischenzeitlich zum Segelmacher und hole mir für 30 Dollar ein vorkonfektioniertes Schattentuch von zwei mal zwei Metern, mit ein paar Ösen rundherum. Jetzt bin ich zufrieden, die Sonne darf scheinen. Der Segelmacher ist übrigens einer von vielen Deutschen, die sich vor vielen Jahren hier in der Karibik niedergelassen haben und als selbständige Handwerker ihren Unterhalt verdienen.

Der holländische Teil mit der Hauptstadt Philippsburg ist mehr kommerzialisiert, hektischer als Marigot im französischen Teil. Diesen Inselteil läuft jeder Segler an, der über den Atlantik Richtung Europa will. Entsprechend professionell und zahlreich sind die Bootsausstatter, Segelmacher, Marineelektronikläden und Riggspezialisten. Man findet hier alles, was man für die große Fahrt braucht.

Um 17 Uhr sind die Monteure fertig, um 18.30 Uhr geht Manfred von Bord. Heute kommen wir nicht mehr durch die Brücke.

Nach dem Abendessen besprechen wir unseren Plan für morgen: Noch etwas Wasser, Zitronensaft und Weißbrot einkaufen. Dann an der Pier Wasser und Diesel nachtanken. Außerdem benötigen wir noch eine Pumpe für die Entsalzungsanlage. Um 10.30 Uhr wird die Brücke aufgehen und dann können wir hinaus auf See, die Agate laufen lassen. Soweit der Plan. Ich werde sehr auf dessen zeitliche Einhaltung achten, denn ich will keine weiteren Verzögerungen mehr hinnehmen. Aber wenn Johann nun verstanden hat, worum es mir geht, brauche ich nicht mehr antreiben. Dann wird alles zügig und entspannt ablaufen.

Wir reden noch eine halbe Stunde bei einem kühlen Bier. Dann geht Johann in die Internetbar nebenan, Peter liest und ich gehe in die Koje.