Zu neuen Ufern

Auszeit

Raus, etwas Ungewöhnliches machen, wenigstens etwas Unvernünftiges, vielleicht sogar Verrücktes. Ich will mein Leben mal aus einer anderen Perspektive sehen, den Alltag ausklammern. Das, was ich immer mache, überprüfen, vielleicht auch „verrücken“. Dafür gibt es immer gute Gründe. Allein diese Sichtweise ist schon unvernünftig: In dieser Zeit kann ich kein Geld verdienen, im Gegenteil. Und ich muss meine Komfortzone verlassen, meine Frau, meinen ebenso geliebten Alltag, die Arbeit und schließlich auch meine Sicherheit.

Nein, ich bin nicht unzufrieden mit mir und meinem Leben. Meine Frau unterstützt mich, wo sie kann, die Firma läuft gut. In den letzten zwei Jahren musste ich mich schon etwas bremsen. Die Arbeit tue ich gerne. Mit meinen 62 Jahren bin ich noch immer bereit für alles, das mir Freude macht.

Aber in den letzten Jahren schlich sich eine gewisse Routine ein, die einen Traum, eine Idee gar zu leicht im Keim erstickt. Dieser Alltagstrott lässt den Pulsschlag meines Lebens schwächer werden. Ich will ihn wieder zum Rasen bringen, wieder frei atmen, über den Tellerrand schauen, mich austoben. Ich weiß noch nicht, wohin mich das Abenteuer führen wird. Aber gerade das ist das Spannende, das ist das Leben. Vielleicht finde ich, wonach ich nicht suche, erschließe mir andere Sichtweisen, neue Möglichkeiten, wer weiß?

Ich will das Leben spüren und das kann ich am besten auf einem Solo-Trip. In der Einsamkeit bin ich mir nahe, bin eins mit mir, komme zur Ruhe, zur Seelenruhe. Da bin ich bei mir, nicht abgelenkt durch Arbeit, Gesellschaft, Telefon, Fernsehen oder andere Errungenschaften des Wohlstands. Wo geht das besser, als auf See?

Vor einem halben Jahr habe ich mir eine trailerbare Segelyacht gekauft. Damit plante ich einen Törn rund um die östliche Ostsee: Polen, das Baltikum, Finnland und die schwedischen Schären standen auf dem Programm. Das würde eine wunderbare Reise in traumhaften Naturrevieren werden. Kaum ein Freund oder Bekannter, den meine Begeisterung nicht angesteckt hätte. Die meisten wären am liebsten sofort mitgesegelt. Nur wenige eiserne Tugendwächter konnten das Bedürfnis nach Neuem, einem Tapetenwechsel, nach einem „Lotterleben“ im arbeitsfähigen Alter nicht nachvollziehen.

Ich habe mich auf diesen Törn gut vorbereitet und auch das Schiff so ausgerüstet, dass ich mich auf See nicht nur sicher fühlen kann, sondern auch weitgehend autark bin: Eine neue UKW-Funkanlage, einen 70 Liter Trinkwassertank mit Druckwasserpumpe, eine 200 Watt Solaranlage und neue Batterien. Einen Autopiloten habe ich installiert, der mir für die Arbeiten an Bord freie Hand lässt und die komplette Beleuchtung ist auf stromsparende LEDs umgestellt. Rumpf, Segel, Rigg und Leinen sind gewissenhaft überprüft. Es kann also losgehen.

Drei Monate Auszeit hatte ich mir genehmigt und meine Frau gab gerne ihren Segen dazu. Wir sind seit zehn Jahren verheiratet und haben uns immer noch etwas zu sagen. Gabi ist die Vernünftigere von uns beiden und immer gerne auf der sicheren Seite. Ich das Gegenteil. Das hat Ihr einige Abenteuer beschert. Mich hat sie dafür vor so mancher Dummheit bewahrt. Eine Win-Win-Beziehung, so könnte man sagen. Das trifft es natürlich nicht. Liebe braucht keinen Gewinn. Sie ist einfach da – ein Geschenk. Als ich Gabi von meinen Segelplänen erzählte, hat sie sich vornehm zurückgehalten. Sie weiß, dass ich nicht zu halten bin, wenn ein Feuer in mir brennt. Kein Aber, kein Abraten oder gar Vorwurf – wie entspannt Zweisamkeit doch sein kann. Sie hat meinen „Drang“ verstanden, unterstützte mich in jeder Hinsicht und hat so einen großen Beitrag dazu geleistet, mir dieses Unternehmen zu ermöglichen.

Alles war gut vorbereitet. Beruflich hatte ich alle Arbeiten abgeschlossen, neue Aufträge erst für die Zeit nach meiner Rückkehr angenommen. Gabi betreut während meiner Abwesenheit das Büro, vertröstet Kunden und sagt Eilaufträge ab.

Es sollte im Wesentlichen ein Einhandtörn werden. Die erste Woche wollte ich mit einem Freund segeln, die letzten drei Wochen mit Gabi. Solange würden wir das Büro schließen. Soweit der Plan.

Kopf oder Bauch?

Wir schreiben den 12. Mai 2016. Am späten Nachmittag komme ich mit meinem vier Tonnen schweren Gespann im Hafen von Sassnitz auf Rügen an. Für Morgen habe ich einen Krantermin vereinbart. So bereite ich das Schiff auf seinen Einsatz vor: Einräumen, aufräumen, Ruder und Motor montieren und die Halteleinen zum Kranen anbringen. Das sind nur einige der anfallenden Arbeiten.

Ein frischer Wind weht von der See zum Hafen. Für Heute habe ich alles erledigt. Feierabend. Ich sitze zufrieden bei einem Bier und Baguette im Cockpit und freue mich auf die vor mir liegenden drei Monate auf unserer INA. Was wird auf mich zukommen, was wird mir diese Reise bescheren?

Unsere INA vor dem Kranen

 

Rundum zufrieden rufe ich meine Emails ab und bin wie elektrisiert. Eine Mail springt mir sofort ins Auge: „Hand gegen Koje – Überführung eines Katamarans von Martinique nach Portugal“. Die Nachricht schlägt ein, wie eine Bombe! Eine Atlantiküberquerung steht schon seit vielen Jahren auf meiner Wunschliste. Und jetzt habe ich Zeit – drei Monate! Das Timing wäre perfekt. Probleme, Möglichkeiten, Lösungen schwirren mir ungeordnet durch den Kopf. Mein Hirn läuft heiß., ein klarer Gedanke ist nicht zu fassen. Das ist DIE Chance. Aber ich kann doch nicht… oder doch?

Ein halbes Jahr hatte ich mich auf den Ostseetörn vorbereitet, das Schiff aufgerüstet, Seekarten besorgt, Bücher gelesen und die wichtigsten Anlaufpunkte studiert. Soll das alles umsonst gewesen sein? Mein Segelfreund Wolfgang will Morgenabend kommen, um mit mir in der ersten Woche die langen Schläge bis nach Litauen zu segeln. Was soll ich ihm sagen? Andererseits: Ein solches Angebot bekomme ich so schnell nicht wieder.

Gabi hatte die Emails bereits abgerufen. Sie erwartete meinen Anruf. Wir besprechen das Für und Wider. Sie überlässt mir die Entscheidung, die im Innern schon gefallen ist. Eine Nacht will ich jedoch darüber schlafen, nicht vorschnell agieren.

Es ist eine lange Nacht mit wenig Schlaf und vielen Gedanken. Ich habe nur wenig Hochseeerfahrung. Was würde mich erwarten? Der Traum einer Atlantiküberquerung ist plötzlich real möglich und schon kommen mir Zweifel. Ich sehe Probleme, fühle Unsicherheit. Die Realität ist eben eine andere Dimension. Ich spüre ganz hautnah den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit. Von etwas zu träumen, mag ja schön sein, denn da kann ich alles Unpassende, alles Unangenehme ausblenden. Aber macht es auf Dauer nicht unzufrieden, nur meinen Träumen nachzuhängen, ohne sie anzugehen, zu realisieren? Die Denkweise „ich würde ja gern, aber….“, entsprach noch nie meinem Wesen. Lieber springe ich ins Ungewisse…und falle auch mal auf die Nase.

Und außerdem: Jetzt fühle ich mich noch fit für ein solches Abenteuer. Wer weiß, wie das in zehn Jahren aussieht? Da hätte ich vermutlich mehr Zeit, aber kann ich es dann gesundheitlich noch? Es wäre für mich unbefriedigend, mir irgendwann mal sagen zu müssen: „Hätte ich doch damals nur…“

Im Morgengrauen krieche ich verkatert aus meiner Koje und schaue hinaus auf die Ostsee. Friedlich liegt sie vor mir, als wolle sie mich einladen, sie zu erkunden. Es ist noch ruhig im Hafen. Einzelne Fischer fahren hinaus. Ich schließe die Kajüte ab und laufe unterhalb der Steilküste den Kiesstrand entlang.

So sehr hatte ich mich darauf gefreut, die nächsten Wochen weitgehend alleine auf See zu sein. Jetzt soll alles ganz anders kommen? Will ich wirklich alle Pläne über den Haufen werfen und mit fremder Crew über den Atlantik segeln? Sonderbar, meine Vernunft ist außer Betrieb, ein nüchternes Abwägen gar nicht möglich. Deshalb ist auch keine Entscheidung zu fällen. Es ist einfach klar. JA, ICH WILL!

Um acht Uhr bin ich zurück und rufe den Skipper an. Das scheint ein überaus freundlicher und gesprächiger Zeitgenosse zu sein. Jedenfalls freut er sich über meine Zusage und will mir heute noch alle Informationen mailen, die ich für meine Vorbereitungen brauche. Dann sagt er mir die wichtigsten Eckdaten: Am 1. Juni werden wir uns in der Marina von Le Marin auf Martinique treffen. Spätestens am 15. Juli sollten wir in Portugal ankommen. Also kann ich mit Wolfgang noch eine Woche rund Rügen segeln. Dann werden wir das Boot im Hafen von Sassnitz parken und nach Hause fahren. Wenn ich am 15. Juli zurück sein werde, kann ich die geplanten drei Wochen mit Gabi immer noch auf eigenem Kiel segeln. Und sollte sich die Ankunft verzögern, wäre das auch kein Beinbruch. Ab jetzt ordne ich der Atlantiküberquerung alles andere unter. Das ist schließlich eine Ausnahmesituation. Gabi wird das verstehen.

Mit dem Skipper vereinbare ich, dass wir zusammen in die Karibik fliegen. Er kennt die Verbindungen und kann für mich den Flug mitbuchen. Er verspricht mir, bis spätestens heute Abend auch seine Bankverbindung zu mailen, damit ich ihm die Reisekosten vorausbezahlen kann.

Um neun Uhr habe ich den Krantermin. Anschließend stelle ich den Mast, schlage Segel und Leinen an und bereite das Schiff zum Segeln vor. So vergeht der Tag wie im Flug. Um 18:00 Uhr hole ich Wolfgang vom Bahnhof ab. Wir verstauen sein Gepäck und gehen zum Abendessen in eines der Hafenrestaurants. Bis zum Abend habe ich vom Skipper nichts gehört. Ich rufe ihn an, aber er geht nicht ans Telefon.

Der Samstag ist ausgefüllt mit kleinen Reparaturen und Vervollständigung der Ausstattung. Beim Mast stellen ist mir die Topleuchte abgerissen und liegt jetzt auf dem Grund des Hafenbeckens. Die ist zu erneuern. Ich versuche immer wieder, diesen Skipper zu erreichen – ohne Erfolg. Warum meldet er sich nicht? Warum ist er nicht erreichbar? Bin ich zu unbedarft, zu gutgläubig und unkritisch? Wenn ich eine Zusage nicht einhalten kann, lasse ich doch zumindest etwas von mir hören. Am Abend erreiche ich ihn endlich. „Ja, es ist alles in Ordnung. Ich hatte nur keine Zeit. In einer Stunde hast du alles“.

Der nächste Morgen ist angebrochen und ich habe vergeblich auf die versprochenen Informationen gewartet. Was soll ich jetzt tun? Soll ich einem völlig fremden Skipper vertrauen, meine geplante Reise abblasen mit dem Risiko, dass das ganze Unternehmen nur Gerede war? Oder soll ich die Sache mit der Überführung abhaken und meinen geplanten Törn antreten? Es ist keine Zeit, noch groß zu überlegen. Wolfgang hat für nächsten Samstag bereits seinen Flug von Riga nach Frankfurt gebucht. Wenn wir das schaffen wollen, müssten wir jetzt starten. Ich bespreche das mit Wolfgang und rufe auch Gabi an. Das Ergebnis der Beratungen: Wir starten jetzt zu einem kleinen Törn rund Rügen und falls die Atlantiküberquerung ins Wasser fällt, muss ich meinen großen Törn so legen, dass ich ihn auch alleine schaffe. Dann würde ich über Bornholm entlang der schwedischen Ostküste bis Finnland hochfahren.

Diese Woche entpuppt sich als ein Wechselbad der Gefühle. Bis Donnerstag weiß ich nicht, wie es weiter geht. Dann kommt die erlösende Nachricht, dass die Flüge in die Karibik gebucht und nun alles in trockenen Tüchern sei. Am Freitag machen wir unser Schiff im Hafen von Sassnitz fest, am Samstag fahren wir gemeinsam nachhause.

Eine knappe Woche habe ich noch Zeit bis zur Abreise. Natürlich bin ich aufgeregt. Was wird auf mich zukommen? Bin ich dem Abenteuer gewachsen hinsichtlich Teamfähigkeit, Fitness, Seemannschaft und was sonst noch alles an nicht bedachten Unwägbarkeiten auf mich zukommt? Was muss ins Gepäck, worauf kann ich verzichten, was ist noch alles zu erledigen? Die Tage sind ausgefüllt. Dann kommt der Tag der Abreise. Mein lang ersehntes Abenteuer Atlantik beginnt…